Psychologische Begleitung bleibt oft ein unterschätztes Gut, das erst in turbulenten Zeiten seine Wertschätzung erfährt. Doch wie können wir den Wert dieser Selbst-Investition erkennen und uns bewusster auf den Prozess einlassen?
Anmerkung: Es ist schwierig, einen in der Ansprache von Leserinnen und Lesern politisch korrekten Text zu schreiben, der auch noch flüssig lesbar ist. Ich habe den Weg gewählt, manchmal nur die weibliche Form und manchmal nur die männliche Form zu benutzen. In beiden Fällen meine ich sowohl Frauen als auch Männer.
Ich habe einen guten, alten Freund, den ich hier Johann nennen möchte. Johann ist Ende 30, aufgestellt, kommt aus einem anständigen Elternhaus, hat zwei Geschwister und einen Uni-Abschluss, der ihm einen lukrativen Job in einem Grosskonzern gesichert hat. Er ist in einer langjährigen Beziehung und neuerdings auch Vater (Glückwunsch!).
Doch lange Zeit machte Johann Dinge, die von aussen betrachtet schwer zu verstehen waren. An manchen Tagen trieb sein Verhalten einem, gelinde gesagt, Sorgenfalten in die Stirn. Über Jahre hinweg liess er sich bereitwillig von seiner Arbeit verschlingen und laugte sich derart aus, bis nicht mehr viel von ihm übrig blieb. Irgendwie vergass er sich und wie er später erkannte, verlor er in diesen Phasen völlig den Kontakt zu sich und der Welt um ihn. Er merkte zwar, wie giftig dieser Modus für ihn war, konnte dem aber nichts entgegensetzen.
„Ich habe mich lange davor gescheut in psychologische Beratung zu begeben, weil ich davon überzeugt war, dass ich nichts zu erzählen habe, was den Besuch hier rechtfertigt.“
Mehrfach lege ich Johann ans Herz eine psychologische Beratung zu beginnen und es vergeht Zeit, bis er sich dazu durchringt. Sein wesentliches Argument: „Ich habe doch nichts zu erzählen, keine riesige Geschichte aufzutischen. Was soll ich denn dort sagen? Im Vergleich zu psychisch Kranken, habe ich doch gar keine richtigen Probleme?“
Johanns Beispiel illustriert eine Haltung, der ich im Praxisalltag häufig begegne – auch einst bei mir selbst. Den eigenen Strickmustern wird, selbst unter Leidensdruck, kein hinreichend grosser Wert beigemessen, der den Aufwand einer Beratung rechtfertigt. Und da beisst sich die Katze in den Schwanz, denn ohne das nötige Bewusstsein übersehen wir nur all zu leicht, wieviel Energie uns scheinbar alltägliche Dinge und traute Eigenheiten rauben, wenn sie tief in den Strukturen unserer Identität verankert sind. Geisteshaltungen, die sich schleichend über Jahre bis Jahrzehnte hinweg zementiert haben und deshalb gerne oft die Note des Selbstverständlichen, Irgendwie-Gegebenen besitzen. Teils bewusst, zum grössten Teil nicht, scheinbar ruhend unter dem Teppich der So-bin-ich-halt-eben-Normalität.
„Dabei besitzen innere Konflikte, auch jenseits pathologischer Nomenklatur, das Potential unser Leben bis auf die Grundmauern zu erschüttern.“
Für jene, die bereits einen Schritt weiter sind und sich der Erforschung ihres Inneren offen stellen wollen, erweist sich ein anderer Faktor gerne als Hindernis - der Monetäre.
Denn psychologische Beratung ist, im Gegensatz zur ärztlich angeordneten Psychotherapie, nicht durch die Grundversicherung gedeckt – und das hat einen Grund: Es geht schliesslich nicht um handfeste Störungen und psychische Erkrankungen, sondern um „Lebensthemen". Dabei besitzen innere Konflikte und seelische Verletzungen, auch jenseits pathologischer Nomenklatur, das Potential unser Leben bis auf die Grundmauern zu erschüttern, wenn wir sie nur lange genug ignorieren.
Warum die Stunden auf dem Praxis-Sessel –auch ohne akuten Leidensdruck– ein gutes Investment in sich selbst sind und was das mit einer guten Energie-Bilanz zu tun hat, möchte ich nachfolgend näher beleuchten.
Wert, Investment und Cappuccino
Die Aufnahme einer psychologischen Beratung bedeutet neben der Erwartung von persönlichem Wachstum und Leid-Linderung auch die Notwendigkeit eigene Zeit, Geld und Energiereserven investieren zu müssen. Um sich die Bilanz aus Einsatz und möglichem Ertrag besser vorstellen zu können, lohnt es sich die beteiligten Operatoren aus Lebensthemen, Zeit und Geld in eine gemeinsame Einheit zu überführen – Energie.
Für das liebe Geld kann die Gleichung folgendermassen aussehen: Ich stecke meine persönliche Lebenszeit und -energie in eine Tätigkeit, die man „Arbeit“ nennt, und bekomme einen vereinbarten Gegenwert in Form von Geld zurück. Es ist also ein Tauschgeschäft und eine Art Energieausgleich. Vereinfacht kann man sagen: In Geld steckt meine Energie, oder Geld ist Energie. Diese Energie stecke ich anschliessend in weitere Tauschgeschäfte wie Busfahrten, Haarschnitte, Cappuccinos usw. und erhoffe mir einen möglichst fairen Ausgleich und Zugewinn an Lebensqualität.
Ein Investment hingegen bezeichnet die Anlage von Kapital mit dem Ziel, über die Zeit einen positiven Ertrag zu erzielen oder langfristige Vorteile zu sichern. Im Fall von psychologischer Beratung können diese Vorteile sein:
mehr Lebensfreude und Energie
Entwicklung der eigenen Persönlichkeit
befriedigende Beziehungen (allen voran zu sich selbst)
Reduktion körperlich-seelischer Schmerzen
Stressreduktion und besserer Umgang damit
innere Entlastung
erweiterte Handlungsfähigkeit und besseres Selbstmanagement
mit weniger Angst und mehr Selbstbewusstsein durchs Leben schreiten
… …und je mehr ich für meinen Einsatz zurückbekomme, desto besser das Investment. Heisst, mein Einsatz an Geld-Energie führt idealerweise dazu, dass mir langfristig deutlich mehr Lebensenergie zur Verfügung steht, als vor der Beratung.
Die Lebens-Energie-Bilanz
Um sich die eigene Energie-Bilanz qualitativ etwas greifbarer zu machen, lade ich dich ein folgenden prominenten Energie-Räubern ins Gesicht zu schauen.
Wieviel deiner Lebensenergie (emotional, seelisch, physisch) verdunstet pi-mal-Daumen an:
Beziehungsstress/gescheiterten Beziehungen durch wiederkehrende toxische Muster?
alltägliche Unsicherheiten z.B. im Beruf, sowie soziale Ängste?
innere Konflikte, Muster und Hemmungen, die einen wie unsichtbare Kräfte zurückhalten und immer wieder an den gleichen Stellen anstehen lassen? Wissend, dass man ja eigentlich ganz anders könnte.
Perfektionsstreben, dem Gefühl eine unsichtbare Messlatte erreichen zu müssen, damit „es“ irgendwann „gut genug“ ist?
unterdrückte Trauer, Wut, Schuld- und Schamgefühle?
leben nach Normen, Werten und Konventionen, die man irgendwann einmal unhinterfragt hinuntergeschluckt hat und sich innerlich danach sehnt aus dem Korsett zu befreien?
sich selbst nicht zu mögen?
(füge eigenes Thema ein)
Nun atme tief ein und führe dir vor Augen, wieviel Lebensenergie und -qualität eingebüsst wird, wenn diese Themen für den Rest deines Lebens wirksam bleiben.
Eines vorweg: Dass sämtliche Energieräuber selbst mit jahrelanger Beratung oder Therapie gänzlich verschwinden, ist leider unwahrscheinlich. Aus eigener Erfahrung, die sich sowohl aus der Perspektive des Beraters, als auch der des Klienten speist, kann ich jedoch mit absoluter Überzeugung sagen, dass es sich trotzdem lohnt. Ich würde mich sogar so weit aus dem Fenster lehnen und behaupten, dass es eines der grössten Geschenke ist, das man sich selbst machen kann.
„Die wesentliche Erkenntnis war, dass es richtig befreiend ist und wahnsinnig gut tut, sich mal mit sich zu beschäftigen.“ Klientin, 42 J.
Das, was wirkt.
Die Frage nach der Wirksamkeit –und damit auch nach dem Wert– einer psychologischen Beratung ist hingegen äusserst komplex und hängt von verschiedenen Faktoren ab.
Allen voran die Qualität der Beziehung. Hier ist es entscheidend „den Richtigen" für sich zu finden. Ein tragfähiges, vertrauensvolles Bündnis und eine passende zwischenmenschliche Chemie zwischen Berater und Klient, ist nach Therapieforscher Klaus Grawe die wichtigste Säule für positive Entwicklung überhaupt. (Diesem Thema widme ich in Kürze einen eigenen Beitrag.)
Komplexität der eigenen Themen, die Bereitschaft sich auf den Prozess einzulassen, Regelmässigkeit der Sitzungen und die Erfahrung, sowie fachlich, methodisches Repertoire der Beraterin sind weitere Faktoren, die sich auf den Prozess auswirken.
Wieviele Sitzungen man tatsächlich benötigt, um das ersehnte Lebensgefühl zu verkörpern, ist völlig individuell. Mit fortlaufender Dauer erlangt man eine immer detailliertere Landkarte der eigenen psychisch-biographischen Zusammenhänge, Aha-Momente und erweitert den Grad an Bewusstheit über das eigene Sein und Tun. Idealerweise erfährt man eine sichere, vertrauensvolle (therapeutischen) Beziehung. Letztere kann nicht hoch genug gewertet werden, wenn sie sich als Ressource erst einmal etabliert hat und einem auf Jahre hinaus als persönlicher Rückhalt und Referenz dient.
Dass die Reise in die inneren Landschaften auch aufregend ist und nicht selten Freude bereitet, hebe ich für den Schlusssatz auf – das wird auch Johann bestätigen.
Herzlich,
Ilja Simon
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